Ein fairer Start ins Leben für alle Kinder in Deutschland?

Ein neuer UNICEF-Bericht zeigt, dass Deutschland die am meisten benachteiligten Kinder besser fördern könnte. Die negative Entwicklung in Hinsicht auf die persönliche Lebenszufriedenheit und selbsteingeschätzte Gesundheit verdienen dabei besondere Beachtung.


Ungleichheit des Kindeswohls in Industrieländern: Ein neuer UNICEF-Bericht, Fairness for Children: A League Table of Inequality in Child Well-Being in Rich Countries, gibt einen Überblick über die Kluft zwischen dem Wohlbefinden von Kindern am untersten Ende der Gesellschaft und jenen in der Mitte. Der Bericht fragt inwieweit benachteiligte Kinder hinter dem Durchschnitt in vier Hauptbereichen des Kindeswohls zurückbleiben: in Hinsicht auf ihre materielle Sicherheit, ihre Bildung, und wie sie selbst ihre eigene Gesundheit und Lebenszufriedenheit einschätzen.

Deutschland liegt bei der Gesamtplatzierung der Ungleichheit des allgemeinen Kindeswohls auf Platz 14 von 35 Ländern – vor Schweden, Frankreich oder Italien, allerdings deutlich hinter Dänemark, der Schweiz und den Niederlanden (Abbildung 1). Kein Land stellt allen Kindern denselben Start ins Leben bereit. Doch die Kluft zwischen dem Wohlbefinden von Kindern ist in einigen Ländern deutlich geringer als in anderen.

Abbildung1

Alle Kinder profitieren, wenn die Ungleichheit sinkt: Die untersuchten Daten zeigen, dass in der Regel alle Kinder von einer Reduzierung der Unterschiede beim Kindeswohl profitieren. Länder mit kleineren Unterschieden weisen auch häufiger folgende Merkmale auf: weniger Kinder leben in Armut; weniger Kinder erreichen nur niedrige Kompetenzstufen in Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften; weniger Kinder sagen, dass sie sich oft krank fühlen; weniger Kinder berichten über eine sehr niedrige Lebenszufriedenheit.

In den meisten Industrieländern sind die benachteiligten Kinder seit der Jahrtausendwende jedoch weiter hinter den Durchschnitt der Gleichaltrigen zurückgefallen. In der Tat sind die allgemeinen Trends – trotz einiger guter Ergebnisse in einzelnen Ländern – ernüchternd. In gut einem Drittel der Länder ist die Kluft zwischen dem Wohlbefinden von Kindern am untersten Ende der Gesellschaft und jenen in der Mitte deutlich angestiegen.

Deutschland liegt im Mittelfeld, hat aber Raum für Verbesserungen: Deutschland beharrt als eines der Länder mit der umfassendsten Bildungskluft zwischen den Kindern am untersten Ende der Gesellschaft und dem Durchschnitt in Lesen, Rechnen und Naturwissenschaften (Rang 28 von 37 untersuchten Ländern), zeigte allerdings mit eine der stärksten Reduzierung dieser Kluft (zwischen 2006 und 2012).

Die Kluft zwischen den Einkommen der Kinder am untersten Ende der Gesellschaft und dem Durchschnitt ist in Deutschland seit der Finanzkrise relativ stabil geblieben. Ohne die bestehenden Sozialtransfers für Familien und Kinder wäre sie jedoch fast um ein Drittel größer.

Trotz dieser positiven Ergebnisse gelten 42 Prozent der ärmsten Kinder in Deutschland als „materiell depriviert“ – sie wachsen in Haushalten auf, die sich drei oder mehr Dinge aus einer Liste wichtiger Güter nicht leisten können, wie etwa unerwartete Ausgaben, Wohnraum (Mietrückstände vermeiden), ausreichende Heizung, proteinreiche Nahrung dreimal in der Woche, Waschmaschine, Farbfernseher, Telefon oder Auto.

Rund acht Prozent der deutschen Kinder und Jugendlichen geben auf einer Skala von eins bis zehn ihre Lebenszufriedenheit mit „vier“ oder weniger an. Im internationalen Vergleich ist dies ist ein hoher Wert. Deutschland ist dabei eines der wenigen Länder in dem UNICEF-Bericht in der sich die Kluft bei der persönliche Lebenszufriedenheit zwischen den untersten zehn Prozent der Kinder und ihren Altersgenossen in der Mitte vergrößerte (Abbildung 2). Auch die Tatsache, dass die subjektive Lebenszufriedenheit bei Kindern der ersten und der zweiten Einwanderergeneration relativ niedrig ist, ist Anlass zur Sorge.

Abbildung2

Aktuelle Daten zeigen ebenfalls, dass rund ein Fünftel der deutschen Kinder über eine oder mehrere psychosomatische Gesundheitsprobleme, wie etwa Kopf-, Bauch- oder Rückenschmerzen, Schlafprobleme oder Empfinden von Nervosität oder allgemeiner Niedergeschlagenheit, an jedem einzelnen Tag berichten. Die Kluft zwischen den Kindern am untersten Ende der Gesellschaft und dem Durchschnitt beim selbsteingeschätzten gesundheitlichen Wohlbefinden ist in Deutschland traditionell gering im internationalen Vergleich, aber auch hier findet der UNICEF-Bericht einen negativen Trend. In beiden Fällen liegt die Begründung für die sich ausweitende Kluft darin, dass das Wohlbefinden der am meisten benachteiligten Kinder abgesunken ist – die Kinder am unteren Ende bleiben in Deutschland im Hinblick auf ihre persönliche Lebenszufriedenheit und selbsteingeschätze Gesundheit noch weiter hinter dem Durchschnitt zurück.

Fairness für Kinder fördern: Kaum jemand würde bestreiten, dass alle Kinder einen guten Start ins Leben verdienen. Oder dass Erfahrungen von Armut, schlechter Gesundheit oder schlechten Bildungschancen in der Kindheit tiefgreifende Auswirkungen auf das Leben im Erwachsenenalter haben können. Ein echter Maßstab für faire Lebensbedingungen in einem Land ist daher, wie gut es sich um das Wohlbefinden der am stärksten benachteiligten Kinder kümmert.

Der UNICEF-Bericht gibt Hinweise darauf inwiefern Wechselbeziehungen zwischen Ungleichheiten bestehen. Kinder aus den ärmsten Haushalten haben generell eine niedrigere persönliche Lebenszufriedenheit, eine schlechtere Bildung, treiben seltener regelmäßig Sport und essen ungesünder als Kinder aus den wohlhabendsten Haushalten. Obwohl durchweg statistisch signifikant sind im internationalen Vergleich keine dieser Erklärungsmuster in Deutschland jedoch besonders ausgeprägt. Der Einfluss der familiären Herkunft der Kinder auf deren Wohlbefinden blieb darüberhinaus mehr oder weniger unverändert über den Zeitraum des UNICEF-Berichts.

Wie ist es dann zu erklären, dass das Wohlbefinden der am meisten Benachteiligten Kinder in Deutschland gerade in Hinsicht auf ihre persönlichen Lebenszufriedenheit und selbsteingeschätzten Gesundheit erkennbar abgesunken ist?

Abbildung3

Eine These lautet: Wachsende Ungleichheit innerhalb der Gesamtgesellschaft wirkt sich nachteilig auf das allgemeine Kindeswohl aus. Es erscheint daher naheliegend mögliche Ursachen in arbeitsmarkpolitischen und gesellschaftlichen Veränderungen zu suchen. Die Zunahme atypischer und prekärer Arbeitsverhältnisse in Deutschland wurde bereits ausgiebig diskutiert. Unstrittig ist auch, dass gesamtgesellschaftliche Einkommensunterschiede in Deutschland seit der Jahrtausendwende zugenommen haben (Abbildung 3).

Daher stellt sich die Frage ob die Stimmen der Jugendlichen möglicherweise auch Ängste und Herausforderungen ihrer Eltern angesichts verschärfter Konkurrenz in einem globalisierten und immer stärker vom Wettbewerb geprägten Deutschland wiederspiegeln.

Der UNICEF-Bericht gibt darauf keine direkte Antwort. Die Ergebnisse – insbesondere mit Blick auf die persönliche Lebenszufriedenheit und die selbsteingeschätzte Gesundheit – sollten jedoch als Aufforderung an Forschung und Politik gelesen werden, fairen Chancen für die am stärksten benachteiligten Kinder mehr Aufmerksamkeit zu geben.


John Hudson ist Professor in Sozialpolitik und Stefan Kühner ist Senior Lecturer in Sozialpolitik an der Universität York, Großbritannien. Sie sind die Verfasser des UNICEF-Berichts, Fairness for Children: A League Table of Inequality in Child Well-Being in Rich Countries, schreiben hier allerdings in persönlicher Kapazität.